Die heilige Schwester Faustina lebte und starb in einer Kongregation, die sich mit der Erziehung von „moralisch gefallenen” Mädchen und Frauen beschäftigte (Gründungscharisma). Als Mitglied dieser Kongregation erfüllte sie deren Charisma, gleichzeitig aber empfing sie von Gott eine größere Gabe – das Charisma, der Welt die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden und in der Welt den evangelischen Wert zu vergegenwärtigen, der die erbarmende Liebe Gottes zu jedem Menschen ist. Im Alten Testament habe Ich zu Meinem Volk Propheten mit Blitz und Donner gesandt – sprach Jesus zu ihr. Heute sende Ich dich zu der ganzen Menschheit mit Meiner Barmherzigkeit. (TB 1588). Viele Male rief Er sie dazu auf, der Welt diese biblische Wahrheit zu verkünden. Schreibe, künde den Seelen von Meiner großen Barmherzigkeit, denn der furchtbare Tag ist nahe, der Tag Meiner Gerechtigkeit (TB 965); verkünde der Welt Meine Barmherzigkeit. Möge die ganze Menschheit Meine unergründliche Barmherzigkeit kennen lernen (TB 848). Künde der Welt von Meiner Barmherzigkeit, von Meiner Liebe. Die Strahlen der Barmherzigkeit brennen Mich; Ich will sie über die Seelen der Menschen ergießen. (TB 1074).
Im Mittelpunkt des Charismas der hl. Schwester Faustina steht der evangelische Wert (nicht eine konkrete Aufgabe), der das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes ist. Ein Leben nach diesem Charisma verlangt somit, fortwährend nach der Erkenntnis dieser Glaubenswahrheit zu streben, diese im Alltag zu betrachen und sie mit einer Haltung des Vertrauens auf Gott zu beantworten (also die Erfüllung Seines heiligen Willens, der für uns die Barmherzigkeit selbst ist) sowie tätige Nächstenliebe. Ein Zeugnis des Lebens in diesem Geist ist die grundlegende Art und Weise, der Welt die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden. Diese Aufgabe wird auch durch verschiedene Werke der Barmherzigkeit erfüllt, durch Worte und Gebete, insbesondere durch das Praktizieren der Andacht zur Barmherzigkeit Gottes in den Formen, die Jesus der Schwester Faustina übermittelte.
Das Charisma der hl. Schwester Faustina bereichert die Kirchengeschichte um eine neue Schule der Spiritualität und die Apostolische Bewegung der Barmherzigkeit Gottes, die die Aufgabe, das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes in der Welt zu vergegenwärtigen, auf verschiedene Art und Weise erfüllt. Die Aktualität und die Bedeutung dieses Charismas nahm der Heilige Vater Johannes Paul II. wahr, was er bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck brachte: Obwohl die Kirche – bemerkte er – vom Beginn ihrer Existenz an das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes verkündet, hat es jedoch den Anschein, dass sie heute besonders dazu aufgerufen ist, der Welt diese Botschaft zu verkünden. Sie darf diese Sendung nicht vernachlässigen, weil Gott selbst sie durch das Zeugnis der hl. Schwester Faustina dazu aufruft.
1. Das Charisma
Die apostolische Sendung und Spiritualität entspringt einer Gabe Gottes, die mit dem Wort „Charisma” bezeichnet wird. Nach dem II. Vatikanischen Konzil, das der charismatischen Dimension des Kirchenlebens mehr Beachtung schenkte, entwickelte sich eine Theologie des Charismas, die uns immer besser verstehen lässt, was diese Gabe des Heiligen Geistes ist und welche Rolle sie im Leben der Gläubigen und Gemeinschaften spielt. Bekanntlich ist es eine Gabe, die nicht nur zum Dienst befähigt, zu einem konkreten apostolischen Dienst, sondern auf das ganze innere Leben des Menschen bzw. der betreffenden Gemeinschaft rückwirkt, auf die Beziehung zu Gott und den Menschen, auf Gebet und Askese.
Es ist eine fundamentale Gabe für jedes Institut, die der Einheit seiner Mitglieder zugrunde liegt und über seine Identität im geistigen Leben und in der Sendung entscheidet. Die Konzilsdokumente des Heiligen Stuhls, die das geweihte Leben betreffen, nennen die Elemente, mit deren Hilfe man das Charisma eines Institus bestimmen und in allen Einzelheiten beschreiben kann. Es handelt sich dabei um das Ziel, zu dem es entstand und das das betreffende Institut verwirklicht, den Charakter, der das Ziel präzisiert (er bestimmt z. B. auf welche Personengruppe sich die Tätigkeit des Instituts erstreckt), die Spiritualität, die Natur (es geht um die Unterscheidung von kontemplativen und tätigen Kongregationen) sowie die gesunden Traditionen. Mit Hilfe dieser Kriterien, insbesondere auf der Grundlage der Konstitutionen, aber auch anderer Dokumente, kann man das Charisma jedes Instituts und seine Entwicklungsdynamik präzis bestimmen. Die Entwicklung des Charismas vollzieht sich in den Grenzen, die solche Elemente bestimmen, wie der Charakter und die mit ihm verbundene Spiritualität, sie kann sich dagegen nicht im Bereich der Natur des Instituts und seines Ziels vollziehen.
Die Theologie unterscheidet zwei grundsätzliche Arten von Charismen in den Instituten des geweihten Lebens: das Gründungscharisma und das Stiftercharisma. Das Gründungscharisma betrifft die Institute, die zur Verwirklichung einer bestimmten Aufgabe in der Kirche entstanden, z. B. zur Heilung von Aussätzigen, Erziehung von Kindern oder Jugendlichen, Führung von Kinderheimen, zur Fürsorge für Dienstmädchen, zur Rettung gefallener Frauen, zur Vorbereitung von Mädchen auf das Eheund Familienleben, die Pflege von Kranken usw. Die Institute dagegen, die das Charisma ihres Stifters besitzen, sollen in der Kirche einen dauerhaften evangelischen Wert verwirklichen, z. B. Armut (Franziskaner). Natürlich verwirklicht jedes Charisma einen evangelischen Wert, aber im Stiftercharisma wird der evangelische Wert selbst zum Ziel des Instituts (nicht eine bestimmte Aufgabe, die ihn in irgendeiner Weise zum Ausdruck bringt).
Das Charisma ist somit eine Gabe, die über die Entstehung und Identität sowie die Entwicklung jedes Instituts entscheidet. Die Personen, die es erhalten, sind Stifter, ungeachtet dessen, in welchen Moment der Institutsgeschichte sie in Erscheinung treten.
2. Das Charisma der heiligen Schwester Faustina
Am Anfang ihres Bestehens erhielt die Kongregation, der Schwester Faustina angehörte, von Gott ein „Gründungscharisma”, sie entstand also, um in der Kirche eine genau festgelegte Aufgabe zu erfüllen: die erzieherische Arbeit zur Besserung gefallener Mädchen und Frauen (Prostituierte).
Schwester Faustina lebte als Mitglied ihrer Kongregation deren Charisma. Wir wissen, wie sehr sie sich um die Personen sorgte, die sich in der unmittelbaren Obhut der Kongregation in den „Häusern der Barmherzigkeit” befanden, wie viel sie für sie betete, wie viele Opfer sie brachte, wie sehr ihr Leben von der alltäglichen Sorge um die Zöglinge erfüllt war, mit denen sie in der Küche oder im Garten arbeitete. Sie freute sich über die Gabe der Berufung in diese Kongregation. In einem Brief an Sr. Ludwina schrieb sie: Schwester, was für eine Freude fühle ich, dass Jesus mich in unseren Orden berufen hat, der sich eng mit dem Werk und mit der Sendung verbindet, die Jesus hatte, mit der Rettung von Seelen. Und wenn wir dieser Sendung treu sind, dann wird uns bestimmt manch eine Seele den Himmel verdanken. Aber wir müssen immer daran denken, dass unsere Sendung erhaben ist, ähnlich wie die Sendung Jesu. Wir müssen den Geist und die Eigenschaften Jesu in ihrer ganzen Fülle haben, uns also aus Liebe zu Gott zu Gunsten der unsterblichen Seelen selbst abtöten, und besonders [sorgen müssen wir uns um] die Seelen, die uns Jesus anvertraut hat (Briefe, 253-253).
Während sie in dieser Kongregation lebte und als ihre treueste Tochter deren Charisma erfüllte – so sprach Jesus über sie – erhielt sie von Gott eine größere Gabe, die die Theologie mit dem Begriff „Stiftercharisma” bezeichnet. Auf die Annahme dieser Gabe bereitet sie Jesus selbst vor: durch zahlreiche Offenbarungen und eine geistige Bildung, wobei Er ihr allmählich die Absichten enthüllte, die Er ihr gegenüber hatte. Der Plan Gottes umfasste nicht nur ihre persönliche Heiligung, sondern auch die Sendung, die nach ihrem Tod eben durch die Gabe des Stiftercharismas fortgesetzt werden sollte.
Diese Gabe kann man anhand des „Tagebuchs”, das sie auf Anweisung von Jesus führte, genau beschreiben. Aus seinem Inhalt geht klar hervor, dass es der Zweck dieses Charismas war, die erbarmende Liebe Gottes zum Menschen in der Welt zu vergegenwärtigen und das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes, die am vollkommensten im Leben, im Tod und in der Auferstehung Jesu geoffenbart wurde, mit neuer Kraft zu verkünden. Versenke dich in Meine Geheimnisse und du wirst den Abgrund Meiner Barmherzigkeit zu den Geschöpfen und Meine unergründliche Güte begreifen. Diese Güte wirst du der Welt zu erkennen geben (TB 438). Schreibe, künde den Seelen von Meiner großen Barmherzigkeit, denn der furchtbare Tag ist nahe, der Tag Meiner Gerechtigkeit (TB 965). Du Sendbotin Meiner Barmherzigkeit, verkünde der ganzen Welt von Meiner unergründlichen Barmherzigkeit. Sei wegen der Schwierigkeiten, auf die du beim Künden Meiner Barmherzigkeit stößt, nicht entmutigt (TB 1142); lasse nicht nach im Künden Meiner Barmherzig- keit (TB 1521; vgl. 699, 848, 1666 und andere). Im Laufe der Jahre identifizierte sich Schwester Faustina immer stärker mit der ihr anvertrauten Aufgabe. Ich weiß, o mein Jesus – schrieb sie – dass ich den Seelen von Deiner Güte künden soll, von Deiner unbegreiflichen Barmherzigkeit (TB 598). O Ewige Liebe, ich wünsche, dass Dich alle Seelen, die Du erschaffen hast, erkennen. Gerne würde ich zum Priester werden, um den sündigen Seelen, die in Verzweiflung versinken, unaufhörlich von Deiner Barmherzigkeit zu künden. Ich wäre gern Missionar, um das Licht des Glaubens in wilde Länder zu tragen, damit die Seelen Dich kennen lernen (TB 302).
Sie wusste auch, dass die Aufgabe, der Welt die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden, nicht nur ihre persönliche Sendung war, sondern dass dies auch die Kongregation tun werde, deren Gründung der Herr von ihr verlangte. Gott [verlangt] eine Ordensgemeinschaft (…) – bekannte sie ihrem Beichtvater, Prof. Michał Sopoćko – die Gottes Barmherzigkeit in der Welt verkünden und sie für die Welt erbitten soll (TB 436). Obwohl sie sich dazu unfähig fühlte und sich wie die biblischen Propheten von dieser Aufgabe herauszureden pflegte, nahm sie dennoch die Mühe ihrer Ergründung und Verwirklichung auf sich.
Legt man die oben genannten Kriterien zugrunde, dann muss bei der Beschreibung des Charismas der hl. Schwester Faustina auch auf seinen Charakter verwiesen werden, der das Ziel des Charismas präzisiert (er bestimmt eine Personengruppe, auf die es gerichtet ist bzw. Wege seiner Verwirklichung). Am besten bringen dies wohl die Worte Jesu zum Ausdruck: Ich gebe dir drei Möglichkeiten, dem Nächsten Barmherzigkeit zu erweisen: Erstens – die Tat; zweitens – das Wort; drittens – das Gebet. In diesen drei Stufen ist die Fülle der Barmherzigkeit enthalten; sie ist ein unumstößlicher Beweis der Liebe zu Mir. So preist und verehrt die Seele Meine Barmherzigkeit (TB 742). Diese drei Möglichkeiten, Barmherzigkeit zu üben, bestimmen zugleich die Art und Weise, wie das Charisma der Schwester Faustina verwirklicht wird, wie das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes vergegenwärtigt und der Welt verkündet wird. Über diese Formen des Charismas sprach der Heilige Vater Johannes Paul II. während seiner ersten Pilgerreise zum Heiligtum in Łagiewniki: Liebe Schwestern! Euch ist eine besondere Berufung zuteil geworden. Indem Christus aus eurer Mitte die selige Schwester Faustina wählte, (…) rief [Er] gleichzeitig zu einem besonderen Apostolat Seiner Barmherzigkeit auf. Ich bitte euch, dieses Werk aufzunehmen. Der Mensch von heute braucht eure Verkündigung der Barmherzigkeit; er braucht eure Werke der Barmherzigkeit und er braucht euer Gebet um Barmherzigkeit. Vernachlässigt keine Dimension dieses Apostolats.
Die Spiritualität des Charismas der hl. Schwester Faustina lässt sich dagegen mit einem Wort bestimmen: Barmherzigkeit (göttliche und menschliche). Das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes stand im absoluten Mittelpunkt ihres geistigen Lebens; es war entscheidend für ihr Bild Gottes als Vater, der voll Erbarmen ist, und für ihre Haltung des Vertrauens Ihm gegenüber, für Gebet und Askese sowie für die Qualität in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich möchte mich ganz in Deine Barmherzigkeit umwandeln, um so ein lebendiges Abbild von Dir zu sein, o Herr, möge diese größte Eigenschaft Gottes, Seine Unergründliche Barmherzigkeit, durch mein Herz und meine Seele hindurch zu meinen Nächsten gelangen (TB 163).
Versuchen wir noch kurz die Kriterien zu untersuchen, die die Theologen anführen, wenn sie über das Stiftercharisma schreiben. Das erste dieser Kriterien ist eine besondere Synthese des Evangeliums, deren Angelpunkt ein einziger, dauerhafter evangelischer Wert ist. Diese Auslegung des ganzen Evangeliums geschah bei Schwester Faustina unter dem Gesichtspunkt des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes und verwandelte sich in die Lebensregel, die alle Dimensionen ihrer Existenz umfasste und sich auf die Nachfolge Christi konzentrierte, der der Welt die erbarmende Liebe des Vaters zu allen Menschen sichtbar machte, insondere zu denen, die in Sünden versunken waren. Die heilige Schwester Faustina, die mit der Gabe des Heiligen Geistes begabt worden war, schenkt somit der Kongregation, der Kirche und der Welt eine neue Interpretation der im Evangelium übermittelten Botschaft Christi, die mit unserer Zeit im Einklang steht: es ist eine synthetische Interpretation des Evangeliums, die unter dem Gesichtspunkt des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes vorgenommen wurde. Diese Synthese ist so klar, dass Johannes Paul II. nicht zögerte, ihr „Tagebuch” als Evangelium des Erbarmens zu bezeichnen, und der Heilige Vater Benedikt XVI. schrieb: Es war der große Wunsch dieser heiligen Frau, die Barmherzigkeit Gottes in das Zentrum des Glaubens und des christlichen Lebens zu stellen. Dank der Kraft ihres geistigen Lebens zeigte sie in vollem Licht – und zwar gerade in unserer Zeit, die die Grausamkeit offizieller Ideologien kennen lernte – die Neuheit der christlichen Botschaft.
Das Stiftercharisma bestimmt die spirituelle Ausrichtung des Instituts, das Proprium des Lebens und der Sendung der Gemeinschaft – das ist das zweite Kriterium für ein Stiftercharisma. Schwester Faustina bestimmt das Proprium des Lebens und der Sendung der Gemeinschaft, also die fundamentale spirituelle Ausrichtung und die apostolische Sendung in der Kirche. Ihnen liegt ein evangelischer Wert zugrunde (keine konkrete Aufgabe), näm lich das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes. Ihr Leben und das derer, die in ihre Fußstapfen treten, konzentriert sich auf die Erkenntnis und die Kontemplation des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes im Alltag und seine Beantwortung mit einer Haltung des Vertrauens gegenüber Gott und der Barmherzigkeit gegenüber den Nächsten. Die apostolische Sendung besteht dagegen darin, der Welt mit neuer Kraft das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes durch das Zeugnis des Lebens, durch Tat, Wort und Gebet zu verkünden.
Das dritte Kriterium des Stiftercharismas betrifft die gemeinschaftliche Nachfolge Christi. Dieses Kriterium erlaubt es, die persönlichen Charismen des Gründers von dem Charisma zu unterscheiden, das er dem Institut übermittelt. Und hier ist Schwester Faustina ein deutliches Vorbild, weil ihr Kongregationen und andere Gemeinschaften in der Kirche nachfolgen, die ihren Weg zur Vereinigung mit Gott übernehmen und sich für ihre charismatische Sendung engagieren, in der Welt das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes zu vergegenwärtigen. Sie werden vom Heiligen Geist inspiriert, der ihnen die dazu notwendigen Gnaden zuteil werden lässt, vor allem ein solches Charisma, das sie durch die Begegnung mit dem Vorbild des Lebens und der Sendung der Apostelin der Barmherzigkeit Gottes in sich selbst erkennen. Dasselbe Charisma leben nicht nur die Schwestern aus ihrer Kongregation, sondern auch andere Gemeinschaften in der Kirche.
Das nächste Kriterium, mit dessen Hilfe man das Stiftercharisma erkennen kann, ist die Berufung zur Gründung einer Kongregation. Das, was den Stifter von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft unterscheidet, ist das Bewusstsein dessen, welche Rolle er aus dem Willen Gottes zu erfüllen hat. Kein Stifter ist dagegen derjenige, (…) der nicht die Absicht hatte, eine Gemeinschaft zu gründen. Jeder Leser des „Tagebuchs” weiß, wie viel Zeit und Kraft Schwester Faustina opferte, um den Willen Gottes zu erfüllen, der – in ihrem Verständnis – darin bestand, eine solche Kongregation zu gründen, die die Barmherzigkeit Gottes verkünden und für die Welt erbitten sollte. Jesus hatte ihr diesen Auftrag eindeutig erteilt, indem Er nicht nur das Ziel, sondern auch den Geist dieser Kongregation bestimmte und die Mittel zur Verwirklichung der gestellten Aufgaben bereitstellte. Sie war tief davon überzeugt, dass diese Aufgaben (die Verkündigung und das Erbitten der Barmherzigkeit Gottes) etwas Neues waren, das über die bisherige apostolische Sendung der Kongregation hinausging, in der sie lebte. Sie wusste nicht, dass diese Aufgaben auch von ihrer Mutterkongregation übernommen werden konnten, obwohl der hl. Ignatius, den sie um Hilfe bei der Ergründung dieser Angelegenheit, ihr deutlich gesagt hatte, dass die Regel [der neuen Ordensgemeinschaft] sich auch in dieser Ordensgemeinschaft anwenden lässt (TB 448). Jene „neue Kongregation” – das war nicht nur eine Ordenskongregation, sondern eine große Bewegung in der Kirche, die aus ihrem Charisma und ihrer mystischen Erfahrung entstand.
Die oben besprochenen Kriterien erlauben die Feststellung, dass Schwester Faustina ein Stiftercharisma erhielt, also eine Gabe, die größer ist als das Charisma, das ihre Mutterkongregation am Anfang ihres Bestehens erhielt. Zwischen dem Charisma der Gründung (der Rettung von gefallenen Mädchen und Frauen) und dem Stiftercharisma, das Schwester Faustina erhielt (die Verkündigung des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes durch das Zeugnis des Lebens, durch Tat, Wort und Gebet) gibt es keinerlei Widerspruch, sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern harmonieren völlig miteinander, so wie es den Plänen Gottes entspricht. Das ursprüngliche Werk der Kongregation wird zur grundlegenden Art und Weise der Verkündigung des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes durch die Tat und ihre Vergegenwärtigung in der Welt.
Da die Kongregation der Schwestern der Muttergottes der Barmherzigkeit die Größe der Göttlichen Gabe entdeckte, die im Charisma der heiligen Schwester Faustina deponiert worden war, erkannte sie sie am 25. August 1995 als ihre geistige Mitstifterin an. Und der Heilige Stuhl, der den liturgischen Kalender in der Kongregation der Muttergottes der Barmherzigkeit und das Brevier über die hl. Jungfrau Maria Faustina bestätigte, billigte der Kongregation das Recht zu, am 5. Oktober die Feier der hl. Faustina zu begehen, was nur kanonisierten Heiligen zusteht, die zugleich Stifter sind.
3. Die Bedeutung des Charismas der hl. Schwester Faustina
Eine Person, die mit einem Stiftercharisma beschenkt wurde und mit Christus tief verbunden ist, bietet stets eine „moderne” Interpretation der Botschaft Christi an, die mit der Zeit übereinstimmt, in der der Stifter lebt. Das Charisma der hl. Schwester Faustina ist in der Tat ein großes Geschenk Gottes an unsere Zeit, es wurde der Kirche als Heilmittel gegen das Böse zuteil, das in der Welt um sich greift. Die Menschheit wird keinen Frieden finden – sprach Jesus zur Schwester Faustina – solange sie sich nicht mit Vertrauen an Meine Barmherzigkeit wendet (TB 300). Die Bedeutung ihres Charismas macht die neue Schule der Spiritualität sichtbar, die sie in die Kirche einbringt, und die Apostolische Bewegung der Barmherzigkeit Gottes, die auf verschiedene Art und Weise die Aufgabe verwirklichkeit, das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes in der Welt zu vergegenwärtigen.
Der Einfluss der charismatischen Sendung der Apostelin der Barmherzigkeit Gottes auf das Leben der Kirche in unserer Zeit ist mit dem sprichwörtlichen „bloßen Auge” zu sehen. Heutzutage ist nämlich das Bildnis, das nach ihrer Vision gemalt wurde, die bekannteste Darstellung Christi; das Fest der Barmherzigkeit am ersten Sonntag nach Ostern wurde bereits in den liturgischen Kalender der allgemeinen Kirche aufgenommen; das weltweit bekannteste Gebet zur Barmherzigkeit Gottes ist der Rosenkranz zur Barmherzigkeit Gottes, der sogar in afrikanischen Dialekten gebetet wird, und das Gebet in dem Moment, als Jesus am Kreuz starb, die so genannte Stunde der Barmherzigkeit, erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Ihr Leben und ihre Sendung initiierten an den Hochschulen und theologischen Fakultäten viele wissenschaftliche Arbeiten, bereicherten die Kirche um eine tiefere Erkenntnis der Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes. Ein objektiv messbares Anzeichen für die Wirkkraft ihrer charismatischen Sendung sind die Namen, die den Kirchen gegeben werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Polen nur eine Kirche, die der Barmherzigkeit Gottes geweiht war, nämlich in Krakau, in der Smoleńsk-Straße. Heute existieren bereits mehr als 200, und 20 von ihnen wurden in den Rang von Diözesanheiligtümern erhoben. In anderen Ländern findet ein ähnlicher Prozess statt, wenn auch langsamer als in Polen.
Die Aktualität und Bedeutung des Charismas der hl. Schwester Faustina bemerkte der Heilige Vater Johannes Paul II., was er bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck brachte, indem er die Christen unserer Zeit dazu aufrief, Zeugen, Apostel der Barmherzigkeit Gottes zu sein.
Sr. M. Elżbieta Siepak ISMM
Vollständiger Text in: Charyzmat św. Siostry Faustyna [Das Charisma der Heiligen Schwester Faustina], in: Studia Bobolanum 2 (2008), S. 5-20.
Übersetzt von Sabine Lipinska